Kommentar zur Sozialpolitik
Von Gregor Fabian und Lothar Teufel
aus: Basisdienst - Informationen aus dem Kreisverband Dortmund 7/2003, 10. November 2003
In den letzten Wochen und Monaten gab es aus sozialpolitischer Sicht entscheidende Weichenstellungen. Dabei wurde deutlich, wie sehr Bundespolitik mittlerweile von Kommunalpolitik abgekoppelt ist.
Den Standpunkt von Markus Kurth als unserem Bundestagsabgeordneten haben wir in der letzten Zeit leider häufig nur intern kennengelernt. Immer gab er sich zwar kämpferisch, kümmerte sich um problematische jedoch manchmal ungleich populäre Stellschrauben, trat nach außen hin als sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion aber wenig in Erscheinung, schon gar nicht in grundsätzlichen Fragen, vielleicht um seine internen Verhandlungsbemühungen nicht zu gefährden. Eine wichtige Zwischenmeldung war allerdings sein Statement zum Sonderparteitag der SPD Anfang Juni, wo er nach der Teilhabegerechtigkeit für Langzeitarbeitlose fragte, sich für einen ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet aussprach und wissen wollte, wie die Finanzierungslasten gerecht auf alle Schultern zu verteilen seien.
Nachdem wir als Dortmunder Kreisverband an seiner Rolle auf dem sozialpolitischen grünen Sonderparteitag im Juni aber deutlich Kritik übten, wo er sich leider nicht so klar positionierte, und ihn zu mehr Profilarbeit und zur Umsetzung grüner Ziele aufforderten, gab uns Markus in einer prompten Antwort zu verstehen, dass für ihn grüne Sozialpolitik jetzt nur in der Abmilderung von Gesetzesvorschlägen liegen könne. Diese realpolitische Haltung wurde nun auch wieder in der letzten Presseerklärung vom 14.10.03 deutlich, in der er vor der Abstimmung zu den Hartz III+IV-Gesetzen verkündete, warum er diesen Vorlagen zustimmen werde. Kurz danach gab es einen ersten (internen) Rechenschaftsbericht, der immerhin detailliert auflistet, wo sein Engagement "Soll und Haben" aufweist. Mag dies angesichts erkämpfter Verbesserungen z.B. der Lohnhöhe bei Minijobs eine folgerichtige Verhaltensweise sein - verständlich ist sie für uns an der Basis leider nicht, zumal der Cottbusser Parteitagsbeschluss den klaren Auftrag enthielt, von Zumutbarkeitsregeln generell Abstand zu nehmen.
So sind wir natürlich enttäuscht, dass diese Gesetze nun mit Hilfe "unseres" Markus zustande kamen. Denn im Grundsatz bedeutet dies nun für uns eine Abkehr vom grünen Programmziel der Solidarität. Reihenweise werden ArbeitslosenhilfebezieherInnen nun auf Sozialhilfeniveau zurückfallen und drohen damit dauerhaft in Armut zu geraten. Das können wir nicht gutheißen.
Noch im August hatte sich unser Kreisverband zu Wort gemeldet und anhand konkreter Gesetzespassagen auf grundlegende Verbesserungen gedrungen. Doch auch wenn es angesichts der sogenannten Miesbacher Erklärung, in der sich viele dieser Forderungen plötzlich wiederfanden, zu einigen Abmilderungen kam, so ist für uns der Grundtenor dieses nun verabschiedeten Gesetzes ein zutiefst gesellschaftsfeindlicher. Und zwar genau deswegen, weil der Staat dadurch vollkommen einseitig diejenigen zur Kasse bittet, die er eigentlich kraft seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe unter seinen besonderen Schutz zu stellen hätte - die Schwachen. Von einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zur Erneuerung unserer Sozialstaatsorganisation kann also keine Rede mehr sein. Besonders nicht seit dem (man lese und staune, ausgerechnet...) 20.10., als nämlich bekannt wurde, dass einem Kanzleramtspapier zufolge Lebensversicherungskonzerne nun Subventionen bekommen sollen.
Wie wird es denn nun weitergehen? Die Paragraphen werden im Bundesrat ordentlich durcheinander gerüttelt. So fallen schließlich alle Verbesserungen wieder heraus, es bleibt ein Papier der Horrorgüteklasse A. Immerhin könnte dann die mögliche Strategie deutlich werden: dem dann entstehenden Gesetzestext müssten grüne MdBs nicht mehr zustimmen, wenn sie nicht wollten. Denn eine Große Koalition sorgte schon für den Erfolg. Und somit wäre das grüne Gewissen wieder rein. Doch, warum war es denn dann eigentlich nicht von Anfang an möglich gewesen, die Zustimmung gänzlich zu verweigern? Schließlich gab es mal (im Grundsatzprogramm) anerkannte Aussagen wie diese: "Vorrangiges Ziel unserer Politik ist es, Armut und soziale Ausgrenzung zu vermeiden und die soziale Lage der am schlechtesten Gestellten zu verbessern."
Für uns an der Basis ist es auch kaum verständlich, warum die offensichtlich permanent unter Druck stehende Fraktion bzw. Teile davon sich nicht auf die Kräfte zu stützen verstehen, die unmissverständlich ihre Zusammenarbeit angeboten haben bzw. dies weiterhin tun, nämlich wir als Basisorganisationen und andere kommunale Partner. Was war denn auf dem Parteitag in Cottbus los, als sich Basis- und Vorstandsantrag ein spannendes Rennen lieferten? Aus unserer Sicht kam da die Angst ins Spiel, möglicherweise eine Regierungskrise auszulösen, wenn die Basiswünsche angenommen werden würden. Man hatte sich also anscheinend darauf verständigt, das Spiel der Macht mitzuspielen. Die berechtigte Hoffnung der sogenannten Parteilinken auf einen Kurswechsel begrub sich endgültig, dabei wäre damals der Zeitpunkt noch günstiger gewesen, effektiv mit dem Veto zu drohen bzw. es einzusetzen, wenn es um die Kanzlermehrheit ging. Wenn man aber trotz breiter Unterstützung in den eigenen Reihen nicht den Mut aufbringt, sich dagegen zu wehren, für fremde Ziele missbraucht zu werden, so ist das entweder der Beweis einer bereits festinstallierten, völlig ungesunden Abhängigkeit, die Sachpolitik unmöglich macht; oder es ist schlicht gewollt und deshalb scharf zu verurteilen. In jedem Fall ist es als Selbstverstümmelungsprozess zu bewerten, der jüngst (17.10.) seinen vorläufigen Höhepunkt erfuhr. Bedauerlich bleibt es, weil wichtige Signale nicht verstanden werden. Warum es in diesem Zusammenhang übrigens immer üblicher wird, bei problematischen Bundestagsentscheidung, die der grünen Programmatik zuwiderlaufen, Erklärungen abzugeben, ist schon interessant und müsste an anderer Stelle näher untersucht werden. So waren es beim Gesundheitsmodernisierungsgesetz insgesamt vier MdBs die sich erklärten, während nunmehr zwölf ihre Entscheidung persönlich begründeten. Allerdings haben wir durchaus so etwas wie Genugtuung empfunden, als wir diese Worte vernahmen: "Ich habe den beiden Gesetzentwürfen nicht zugestimmt und mich der Stimme enthalten, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass sie das bewirken, was sie vorgeben. Sie werden an der hohen Arbeitslosigkeit wenig ändern. Sie sind sozial unausgewogen, führen zu unverhältnismäßigen Härten und dürften sich ökonomisch eher kontraproduktiv auswirken...". Das hätten eigentlich alle unsere Abgeordneten unterzeichnen sollen, zumindest wenn man das Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen ernst nehmen will, stattdessen war es nur einer, nämlich Werner Schulz. Man mag ihm vorwerfen, was man will, immerhin hat er sich getraut, die Wahrheit zu sagen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: wir als ein Teil der Basis halten diese Strategie der sanften Abmilderung schlimmer Gesetzesvorlagen für falsch und sehen in dem Wunsch einer klaren Gegenhaltung und der Erwartung von zu konzipierenden oder zu präsentierenden Alternativvorschlägen von denjenigen, die im Gegensatz zu uns Ehrenamtlichen und Laien professionelle Mittel zur Verfügung haben, ein geeignetes Mittel, Interessenspolitik durchzusetzen. Denn unser Interesse hatten wir diesbezüglich seinerzeit "sozialgerecht" definiert - für all diejenigen wollten wir Partei ergreifen, die z.B. aufgrund einer Behinderung (geistig, körperlich, seelisch) oder Beschränkung (Gesundheit, Alter, Arbeitsplatz, Menschenrechte) oder Besonderheit (Partnerschaft, Sexualität) von unserer Gesamtgesellschaft als schwach oder uninteressant oder unnormal ausgegrenzt werden und ihnen unsere Stimme leihen. Wir finden, das sollte auch weiterhin unsere Form der Solidarität sein. Wir müssen aber an dieser Stelle auch feststellen, dass wir als Gesamtpartei mit diesem Anspruch gerade sozial- und arbeitsmarktpolitisch wohl gescheitert sind; Gesamtpartei deshalb, weil die Fraktion ausführte, was die Partei ihr nicht verbot.
Übrigens hatte zu diesem aus den sogenannten Hartz-Maßnahmen resultierenden Schreckensbild das Dortmunder "Akoplan-Institut für soziale und ökologische Planung" bereits im Juni 2003 eine Studie herausgegeben. Darin wurde u.a. prognostiziert, dass von der faktischen Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Verkürzung der Bezugsdauer ca. 25.000 Dortmunder Haushalte betroffen sein werden. Ca. 19.000 von ihnen werden - so Akoplan - Transferkürzungen zwischen 30 und 46 Mio. Euro pro Jahr erfahren, d.h. zwischen 21,5 und 33,6 % ihres Haushaltseinkommens verschwindet. Die übrigen Haushalte, die unter die Bezugsdauerregelung fallen, werden Einkommensverluste in Höhe von geschätzten 20-30 Mio. Euro zu erwarten haben. Somit resultiert für Dortmund demnach ein Gesamtkaufkraftschwund von 50-75 Mio. Euro. Die Binnennachfrage wird erheblich geschwächt. Wo darin der wirtschaftspolitische Sinn (denn sozialpolitisch ist es vollkommener Unsinn) liegen soll, bleibt uns unergründlich.
Doch damit leider nicht genug. Wer das Ausmaß dieses übergreifenden Sozialabbaus auch nur annähernd in seiner Dimension begreifen will, muss sich das Szenario vor Augen führen, dass durch die Kürzungen entstehen wird, die jetzt im Landeshaushalt NRW für 2004 und 2005 vorgesehen sind. Über diese Einsparungen laufen die Beratungen und Anfang Dezember wird entschieden. Wir wollen nicht zulassen, dass vor allem im sozial-, familien- bzw. bildungspolitischen Spektrum in den kommenden beiden Jahren in Dortmund Förderungen aus dem Topf der öffentlichen Hand für gestrichen werden sollen: so wird das Budget für Stadt und freie Träger im Bereich Soziales und Gesundheit innerhalb von zwei Jahren beispielsweise um 0,63 Mio. Euro gekappt. Betroffene sind u.a.: Beratungsstelle für Wohnungslose, Frauenhaus, Youthworker, Drogen- und Suchtberatungen/-hilfe, AIDS-Hilfe. Bei den Erziehungsberatungsstellen sowie der Kinder- und Jugendförderung des Landesjugendplanes ist von Einsparungen von insgesamt 0,61 Mio. Euro auszugehen. Im Bereich der Kindergarteneinrichtungen kommt es zu den größten Einschnitten: hier stehen bis 2005 2,16 Mio. Euro bei den Sachkostenpauschalen zur Disposition.
Landesweit sind damit in den beiden kommenden Jahren Kinder, Jugendliche und Familien diejenige gesellschaftliche Gruppe, die das größte Haushaltsopfer bringt: mit insgesamt 173 Mio. Euro muss sich auch unsere rot-grüne Landesregierung dem Vorwurf ausgesetzt sehen, nun ihrerseits Wahlversprechen zu brechen. Denn auch hier werden anscheinend Zugeständnisse an die Macht unternommen, die mit grüner sozialpolitischer Glaubwürdigkeit nicht mehr das Geringste zu tun haben.
Wir fragen uns: wie sollen diese ganzen Ausgabenkürzungen denn eigentlich nachhaltig dazu führen, dass endlich alle ca. 60.000 Arbeitslose in unserem Dortmunder Arbeitsamtsbezirk eine Stelle finden, wo es doch nur ca. 3.000 offene Posten gibt? Kann denn das Geld, das der Jugendförderung genommen werden soll, vielleicht dazu führen, dass neue Ausbildungsplätze in unserer Stadt entstehen, wo sich doch immerhin 492 Jugendliche 183 Plätze teilen müssen, wie es die Statistik für September 2003 belegt?
Dies alles wollen und können wir nicht widerspruchslos hinnehmen.
Wie sollte die Arbeit des grünen Kreisverbandes in Dortmund unserer Meinung nach in der nächsten Zeit also aussehen?
Wir schlagen dazu die folgenden Maßnahmen vor:
- Aufruf zur Mitarbeit und Unterstützung von lokalen Initiativen
- Beschäftigung mit dem Landeshaushalt
- Aktionsplanung für Düsseldorf
- Rückkoppelung an unserem MdB, d.h. klare Forderungen formulieren
- Vernetzung mit Protestgruppen
- Mahnwachen vor bedrohten kommunalen Einrichtungen
- Veranstaltungsreihen für ein wirkliche soziale Gerechtigkeit, Kontaktaufnahme zu Sozialreferenten
- Konzeptions-/Visionsarbeit
Das ganze Horrorkabinett der Zahlen von aktueller und zu erwartender Bedrängnis könnte - aufbereitet durch unseren ganzen bürgerlichen Protest, für den sich noch Formen und Wege finden lassen müssten - dann in entsprechender Weise nach Berlin und Düsseldorf übermittelt werden, um vielleicht endlich solche Antworten zu erhalten, die zur Abwechslung mal in unsere Richtung gehen.
Durch unsere Mitarbeit in der AG Arbeit und Soziales unseres Kreisverbandes wollen wir persönlich versuchen, uns in die innerparteiliche Debatte zur Sozialpolitik einzuschalten und eine klare Positionierung unseres Kreisverbandes zu unterstützen. Vorbereitet durch laufende Informations- und Konzeptionsarbeit könnte dort mit eigenen Aktionen und Veranstaltungen ein Beitrag geleistet werden, in der Dortmunder Gesellschaft ein besseres Bewusstsein für sozialpolitische Vorgänge zu schaffen. Bei der Zusammenarbeit mit anderen Gruppen ist unserer Auffassung zufolge darauf zu achten, dass ein fairer Informationsaustausch stattfindet, der dem gemeinsamen Ziel der Erhaltung unseres Sozialstaats dient. Letztlich sind wir zur Überzeugung gelangt, dass wir gerade als Bürger von unten einen wahrnehmbaren Druck erzeugen können, der zu Veränderungen und Korrekturen von Handlungsmodellen in den sogenannten Spitzenetagen unserer Gesellschaft führt.
Wir kennen uns an der Basis aus, denn wir erleben hier vor Ort die Not unserer Mitmenschen, und weil wir wissen, wo der Schuh drückt, können und müssen wir das auch transportieren. Nur die Konfrontation mit den "brutalen" Fakten von authentischen Personen schafft offenbar die Kraft für Entscheidungsträger, sich notfalls gegen eigene Entschlüsse zu verhalten und den Mut zur Umkehr zu entwickeln. Diese Umkehr ist keine Schande, sondern ein Gebot der Vernunft. Erinnern wir uns daran, dass Solidarität eine universelle Menschenpflicht ist. Da sie aber auch ein Recht ist, gilt es sie zu verteidigen. Dafür gibt es vielseitige Möglichkeiten. Dass man dafür auch manchmal auf die Strasse gehen muss, belegt die Großdemonstration in Berlin, die sich kürzlich gegen den "Sozialkahlschlag" richtete. Annähernd 100.000 Menschen aus ganz Deutschland und allen gesellschaftlichen Schichten und Generationen zeigten ihren Unmut mit dem Regierungskonzept.
Zu sagen, es gäbe keinen Rückhalt für eine mutige Entscheidung, sich seiner sozialen Verantwortung (wieder) bewusst zu werden, ist also weder verständlich noch akzeptabel. Soziale Verantwortung hieße daher für uns, diesen Protest ernst zu nehmen und ihn als Rückhalt für eine Poltikveränderung zu nehmen. Soziale Gerechtigkeit endet nicht an den Türen von Besprechungsräumen, aber sie sollte sich auch nicht nur auf die Stimmungen bei Massenkundgebungenen stützen. Auch in unserer Stadt entwickelt sich zunehmender Unmut. Wie wir darauf als KV öffentlich reagieren, gilt es in der nächsten Zeit zu entscheiden. Davor müsste es aber eine möglichst breite interne Diskussion geben. Dazu einen Beitrag zu leisten, war für uns der Anlass dieser Kommentierung.
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