Agenda 2010
Ein Brief aus Berlin von Markus Kurth
aus: Basisdienst - Informationen aus dem Kreisverband Dortmund 2/2003, 15. Mai 2003
Liebe Freundinnen und Freunde,
die Debatte um die sogenannte Agenda 2010 waren das bestimmende Thema der vergangenen Wochen im Bundestag. Der Kanzler hat den Versuch gemacht, mit einem Rundumschlag aus der Defensive zu kommen und in bewährter Macher-Manier "Handlungsfähigkeit" zu demonstrieren. Zur Demonstration von Handlungsfähigkeit als Macher gehört offenbar auch der Rückgriff auf vordemokratische Formen. Selbst als gutwillig auftretender Kritiker hat man es sehr schwer, mit Verbesserungen und Ergänzungen überhaupt Gehör zu finden. Abweichende Positionen drohen immer - auch wenn sie ökonomisch und sozial vernünftig sind - als "Verwässerung" gebrandmarkt zu werden. In der schlichten Logik, die sowohl in den Kommandozentralen als auch in den meisten Chefredaktionen zu herrschen scheint, bedeutet dies Schwäche und damit das Stigma "Misserfolg" - völlig ungeachtet der inhaltlichen Argumente.
Dabei wird völlig übersehen, dass es sich bei der "Agenda 2010" mitnichten um ein in sich geschlossenes Reformprojekt handelt. Vielmehr haben wir es mit einer breit gefächerten Maßnahmenankündigung zu tun, die unterschiedlichste Bereiche umfaßt. Alle möglichen anstehenden Teilbereiche sind unter dem Schlagwort "Agenda 2010" zusammengefasst.
Neben der bereits in Angriff genommenen Veränderung der Arbeitslosenversicherung beinhaltet die sogenannte Agenda auch die Reform der Handwerksordnung, die geplante Änderung des Kündigungsschutzes, Initiativen zur Bekämpfung von Schwarzarbeit, eine Politik zur Stärkung des Mittelstands, die längst überfällige Gemeindefinanzreform, steuerpolitische Maßnahmen (Abgeltungssteuer), sowie die Gesundheits- und Rentenreform. Eine ganze Reihe dieser Vorhaben wurden von uns Bündnisgrünen angestoßen und sind in unserem Wahlprogramm sowie im Koalitionsvertrag vereinbart worden (z.B. Meisterzwang abschaffen).
Vor dem Hintergrund einer Zuspitzung der Machtfrage auf die Durchsetzung der Agenda 2010 sehe ich keine andere Möglichkeit, als mit konkreten Forderungen und Verbesserungsvorschlägen auftreten. Eine Infragestellung der Agenda 2010 insgesamt ist angesichts der - im übrigen grotesk überhöhten - Debatte um "Regierungsfähigkeit" innerhalb der Fraktion nicht durchzuhalten.
Ich sehe im übrigen durchaus die Chance, die aktuelle Debatte dazu zu nutzen, die Agenda durch weitere bündnisgrüne Reformprojekte zu ergänzen, für die wir bisher nur sehr geringe Akzeptanz beim Koalitionspartner finden konnten. Ich denke hier vor allem an die Chance, weitere ökologische Reformen als notwendige und sinnvolle Ergänzung der sozialen Reformen zu thematisieren (so etwa der Ausbau der ökologischen Steuereform, der Abbau von ökologisch schädlichen Subventionen).
Auch in den eigenen Reihen öffnen sich mit der Agenda 2010 plötzlich Wege für Initiativen, die bisher innerhalb der Grünen Bundestagsfraktion nicht mehrheitsfähig waren. So habe ich in den vergangenen Wochen intensiv daran gearbeitet, die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe mit der Forderung nach einem sinnvollen Ausbau des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors zu verbinden. Mittlerweile hat sich auch in der Bundestagsfraktion die Auffassung durchgesetzt, dass der Abbau von Massenarbeitslosigkeit nur durch ein klares Bekenntnis zu einem "ehrlichen 2. Arbeitsmarkt" Erfolg haben kann.
Meine Verbesserungsvorschläge zur Agenda 2010 im Einzelnen:
Keine Kürzungen ohne neue Angebote und Chancen
Ein Kernelement der Agenda 2010 ist die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in Form eines Arbeitslosengeldes II. Ziel ist die lange geforderte "Hilfe aus einer Hand". Dies wird im Prinzip von mir unterstützt. Wichtig ist mir allerdings, dass sich diese Reform nicht auf die Absenkung von Leistungen beschränkt, sondern mit weitreichenden arbeitsmarktpolitischen Reformen verknüpft wird. Die Besonderheit des neuen Leistungssystems muss in einem klaren Engagement für einen "ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt" liegen. Angesichts von weit mehr als sechs Millionen Arbeitsuchenden kann Erwerbslosigkeit nicht nur als Vermittlungsproblem gesehen werden.
Ausgestaltung des ALG II optimieren
Nach meiner Auffassung müssen noch offene Fragen nach den Bezugsbedingungen des neuen ALG II dringend geklärt werden. Hier strebe ich deutliche Nachbesserungen an. Als Mitglied der sozialpolitischen Kommission von Bündnis 90/Die Grünen habe ich klare Vorschläge gemacht, wie die Reform des Arbeitslosengeldes ausgestaltet werden muss, um mehr Teilhabegerechtigkeit und Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Als Bundestagsfraktion sollten wir die anstehende Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe dafür nutzen, die Wichtigkeit von Integrationsangebote an alle Erwerbslosen zu betonen. Jeder und jede soll in Zukunft die Chance bekommen, mit Hilfe der aktiven Arbeitsmarktpolitik den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Bei Personengruppen, denen nur schwer andere Perspektiven zu eröffnen sind, müssen diese Maßnahmen durch sinnvolle Angebote im zweiten Arbeitsmarkt flankiert werden.
Altersvorsorge sichern
Die Bezugsbedingungen des ALG II sind so auszugestalten, dass Rücklagen für die private Altersvorsorge mit weitaus größeren Freibeträgen als bisher anrechnungsfrei gestellt werden. Daher muss das geschützte Altersvorsorgekonto als neue Rechtsform zeitgleich mit dem neuen Leistungssystem verwirklicht werden. Es darf nicht sein, dass private Altersvorsorge über Lebensversicherungen und Rentensparpläne in Zeiten der Arbeitslosigkeit quasi bestraft wird - womöglich in der Lebensphase kurz vor Renteneintritt, in der das Risiko, langzeitarbeitslos zu werden, momentan besonders hoch ist.
Eigene Leistungsansprüche von Frauen sichern
Bei der Anrechnung von Partnereinkommen plädiere ich für eine Festlegung der Bemessungsgrenzen, die eine Anrechnung eigener Beitragszeiten stärker berücksichtigt. Eigenständige, langjährig erworbene Leistungs- und Förderungsansprüche müssen gerade für Frauen in Partnerschaften erhalten bleiben. Die neue Leistung muss die Beiträge für Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung enthalten - einerseits um Löcher in den benachbarten Sozialkassen zu vermeiden und andererseits, um Lücken in der Rentenbiographie nicht entstehen zu lassen.
Das neue Leistungssystem als weiterer Schritt zur Einführung der bedarfsdeckenden Grundsicherung
Das neue ALG II muss armutsfest sein, das soziokulturelle Existenzminimum abbilden und regelmäßig an steigende Lebenshaltungskosten angepasst werden. Um einen diskriminierungsfreien sozialen Schutz für alle Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, muss die längst überfällige Reform der Sozialhilfe im Rahmen der Zusammenführung beider Leistungssysteme angegangen werden. Damit kommt auch die dringend notwendige Neufestsetzung der Regelsätze der Sozialhilfe ins Spiel.
Ich bin sowohl Mitglied der Arbeitsgruppe zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe als auch der Arbeitsgruppe zur Sozialhilfereform. An dieser Schnittstelle setze ich mich dafür ein, dass die Einführung des ALG II an eine vernünftige Reform der Sozialhilfe gekoppelt wird. Beide Reformen sind ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu der von uns geforderten sozialen Grundsicherung.
Gerechtigkeit der Einschnitte: Auch starke Schultern müssen Lasten tragen
Kritik an der Agenda 2010 setzt an der Einseitigkeit der angekündigten Maßnahmen zu Lasten der Arbeitnehmer und der Empfänger von Sozialleistungen an. Während für diese Gruppe bereits konkrete Leistungskürzungen und Einschränkungen von Arbeitnehmerrechten angekündigt wurden (Reform des Kündigungsschutzes, Ausgliederung des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung, Begrenzung des Bezugs von Arbeitslosengeld, Abbau der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau), werden für die leistungsstarken gesellschaftlichen Gruppen keine konkreten Einschnitte angekündigt.
Dem halte ich entgegen, dass im Rahmen einer sozial ausgewogenen Reform alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag zur Bewältigung der Finanzierungskrise unseres Sozialstaates leisten müssen.
Die Schwierigkeiten, einen leistungsstarken Sozialstaat auch in wirtschaftlich schwachen Zeiten zu finanzieren, sind unabweisbar. Der in der Agenda 2010 gezogene Rückschluss, diese Schwierigkeiten vornehmlich durch Kürzungen auf der Ausgabenseiten zu überwinden, greift allerdings zu kurz und suggeriert, dass wir uns den Sozialstaat gerade dann, wenn er am nötigsten gebraucht wird, nicht leisten können.
Nach meinem Verständnis liegt die aktuelle Krise unserer sozialen Sicherungssysteme auch auf der Einnahmenseite. So belastet die hohe Arbeitslosenquote nicht nur die Ausgaben, sondern auch die Einnahmeseite der Sozialkassen. Grüne Sozialpolitik setzt hier an: Nur mit der Zusammenfassung der sozialen Sicherungssysteme zu einer allgemeinen Bürgerversicherung bei gleichzeitiger Verbreiterung der Einnahmenseite durch die Einbeziehung aller Einkommensarten können wir eine gerechte Lastenverteilung erreichen. Dabei müssen wir schrittweise von der Finanzierung der Sozialsysteme durch die abhängig beschäftigten Beitragszahler zu einem Sozialsystem kommen, an dessen Finanzierung alle Einkommen beteiligt sind.
Sozialpolitik ist deshalb auch Steuerpolitik. Sie muss auf der Einnahmenseite sicherstellen, dass jeder entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung herangezogen wird. Aus diesem Grund werde ich die Agenda 2010 um eine umfassende steuerpolitische Debatte zu erweitern suchen. Im OECD-Vergleich ist Deutschland faktisch ein Niedrigsteuerland. Während Lohnsteuern heute 35% der Steuereinnahmen ausmachen und vor allem kleine und mittlere Einkommen belasten, machen Einkommen aus Kapitalerträgen und Gewinnen nur noch 15% der gesamten Einnahmen aus. Die in der Agenda 2010 angekündigte Abgeltungssteuer auf Zinserträge verschärft Steuerprobleme erneut und entlastet diejenigen, die hohe Zinserträge aus Anlagevermögen beziehen. Eine sozial gerechte Steuerpolitik muss den Mut beweisen, Einkünfte aus Vermögen und Erbschaften zur Bewältigung der Finanzierungskrise unseres Sozialstaates heranzuziehen.
Am 18. Juni werde ich auf der Mitgliederversammlung in Dortmund Rede und Antwort stehen. Dringend empfohlen sei denjenigen, die über die Agenda 2010 diskutieren und sich informieren wollen, auch der sozialpolitische Kongress in Düsseldorf am 24. und 25. Mai.
Bis bald und GRÜNE Grüße von Eurem Abgeordneten
Markus Kurth