Nazikundgebungen: Beiträge zum demokratisch-politischen Willensbildungsprozess?

Zum Stand der juristischen und verfassungsrechtlichen Diskussion zum Problem des Verbots von Nazidemos

Von Heinz Schröder

aus: Basisdienst - Informationen aus dem Kreisverband Dortmund 1/2003, 20. Januar 2003

Nun ist es drei Jahre her, dass Neonazi-Aktivist Christian Worch damit begann, das Land mit wöchentlichen Demonstrationen und Kundgebungen nationalsozialistischer Gesinnungsfreundinnen und -freunde zu überziehen, aber es ist auch drei Jahre her, dass unser Bundeskanzler, unser ehemaliger Ministerpräsident und viele andere Repräsentanten politischer Parteien zum "Aufstand der Anständigen" aufriefen.

Der "Aufstand der Anständigen" hat sich inzwischen als Medien-Kampagne erwiesen, die wenigen Veranstaltungen unter diesem Motto sind längst in Vergessenheit geraten. In Dortmund wurde das spontane Demonstrationsbedürfnis Hunderter gegen Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus in Polizeikesseln erstickt. Nach nur wenigen Wochen wollte kein Politiker mehr etwas von diesem Bürger-Engagement gegen Auftritte alter und neuer Nationalsozialisten wissen. Bereits im Januar 2001 war vom Konzept der "Leeren Straßen" die Rede (so der damalige Ministerpräsident Clement), vom Nichtbeachten und Ignorieren, vom "Jalousien runterlassen", wenn Neonazis durch die Straßen marschieren.

Und sie marschieren weiterhin durch die Straßen, Woche für Woche, die Demokalender rechtsextremer Internetseiten sind gefüllt. Christian Worch tüftelt gerade an einem neuen Konzept, den "Demos im Doppelpack". Auf der Internetseite des "Nationalen Widerstands" stellt er erste Versuche vor: für einen Tag werden an zwei unterschiedlichen Orten Demonstrationen angemeldet, der Nazi-Pulk fährt nach Abschluss der ersten Demo geschlossen zu zweiten.

In Dortmund war Worch seit März 2001 nicht mehr. Es war auch nicht sonderlich nötig, zu erfolgreich waren seine "Pioniertaten". Inzwischen ist die Dortmunder Szene in der Lage, sich ohne "auswärtige Hilfe" auf der Straße zu präsentieren, Demonstrationen, Kundgebungen und Konzerte zu organisieren, rechtlich durchzusetzen und hierfür bundesweit zu mobilisieren. Die Tatsache, dass die langjährige Führungspersönlichkeit Siegfried Borchardt (Mitbegründer der verbotenen "Borussenfront" und der ebenfalls verbotenen "FAP") inzwischen mal wieder eine Weile im Knast sitzen wird, mindert die Handlungsfähigkeit der Dortmunder Neonazi-Szene nicht im geringsten. Die Kombination aus alten Kaderstrukturen und einer gezielt auf Jugendliche abzielenden "Nazi-Pop"-Subkultur (Musik [Oidoxie u.a.], CDs, DVDs, Kleidung, Internet etc.) hat die Zahl der Aktiven und Sympathisanten merklich zunehmen lassen.

Auch wenn der Versuch, durch rechtspopulistische Auftritte unter der Bezeichnung "Völkisch orientierte Gemeinschaft Dortmund" z.B. im Rahmen der Kampagne "Todesstrafe für Kinderschänder" im Frühjahr 2003 am rechten Rand der Bevölkerung weitere Sympathisantenkreise zu gewinnen, erst einmal gescheitert ist, haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass nicht nur beste Kontakte bestehen zur DVU und deren Vertreter im Dortmunder Stadtrat, auch der umfangreiche Demokalender wurde konsequent abgearbeitet: 5 Kundgebungen im regionalen Rahmen und zwei Demonstrationen, zu denen bundesweit mobilisiert wurde, all dies in einem Zeitraum von sechs Wochen während der Dauer der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht".

Versuche, diese Auftritte der Neonazis in der Dortmunder Innenstadt zu verhindern, gab es erst gar nicht. "Keine Aussicht auf Erfolg", lautet seit Jahren die stereotype Begründung der Versammlungsbehörden.

Dies bewirkt zu haben, lobt sich Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, Richter am Bundesverfassungsgericht: "Eine aus rechtsstaatlicher Sicht erfreuliche Folge der verfassungsgerichtlichen Intervention war, dass die Behörden und Gerichte ihre Praxis umgestellt haben und sich offenbar an den vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Grundsätzen orientieren."

Es dürfte weniger eine "verfassungsgerichtliche Intervention" gewesen sein, sondern die ernüchternde Erfahrung der Behörden, dass nahezu sämtliche Verbotsverfügungen von Neonazi-Demonstrationen spätestens in letzter Instanz von der zuständigen 1. Kammer des 1. Senats des BverG wieder aufgehoben wurden.

Der Vorsitzende dieser zuständigen 1. Kammer des 1. Senats des BverG, Dr. Hoffmann-Riem, sieht im neo-nationalsozialistischen Gedankengut lediglich eine "missliebige Meinung" einer politischen Minderheit, die vom Grundsatz der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit geschützt sei. Der demokratische Rechtsstaat müsse es verkraften, wenn Neonazis durch die Straßen marschieren. Angemeldete Versammlungen dürfen - so Dr. Hoffmann-Riem - nur ausnahmsweise verboten werden "zur Abwehr unmittelbar bevorstehender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung", und auch hier nur dann, wenn "Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht reichen".

Die Argumentation von Dr. Hoffmann-Riem basiert dabei in wesentlichen Zügen auf der Grundannahme, dass die deutsche Verfassung die demokratiefeindlichen und menschenverachtenden Züge der nationalsozialistischen Gedankenwelt so wertet, als wären diese Anschauungen ebenso zu behandeln wie Anschauungen anderer politischer Minderheiten im demokratischen Spektrum. Aufgrund dieser Prämisse kann er seine Argumentation reduzieren auf versammlungsrechtliche Grundsätze.

Verfassungsrechtliche Grundsätze spielen in seiner Argumentation nur eine untergeordnete Rolle und kommen lediglich da zum Vorschein, wo er betont, dass Verfassungsrichter politisch neutral zu entscheiden hätten und politisch-motivierten Wünschen nicht nachgeben dürften.

Dabei vernachlässigt er, dass die Väter des Grundgesetzes nach den Erfahrungen des NS-Unrechts-Staates eine unmissverständliche Einschränkung der Gewährung von freiheitlichen Grundrechten festgeschrieben haben: Im Artikel 18 des Grundgesetzes heißt es: "Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere ... die Versammlungsfreiheit (Artikel 8) ... zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte."

Im Zusammenhang mit den zahlreichen Naziaufmärschen in Dortmund ist in den vergangenen Jahren wiederholt und aus unterschiedlichen politischen Richtungen der Standpunkt vertreten worden, Neonazis würden das Versammlungsrecht lediglich für demokratiefeindliche Zwecke und für menschenverachtende Ziele missbrauchen. Verwunderlich, dass hier Richter am Bundesverfassungsgericht ausgerechnet diesen Sachverhalt, den zu beachten das Grundgesetz doch so nahe legt, nicht entsprechend würdigen.

Die von Dr. Hoffmann-Riem erwähnte "verfassungsgerichtliche Intervention" dürfte zudem die Landesregierung, insbesondere den Innenminister, erreicht haben. Hier wird in öffentlichen Stellungnahmen und im Rahmen von Diskussionen seit Jahren der Eindruck erweckt, als handele es sich bei den Beschlüssen der 1. Kammer des 1. Senats am BverG um Grundsatzentscheidungen des BverG, denen nicht widersprochen werden darf.

Allerdings, so der ehemalige BVerG-Präsident Ernst Benda, hat es derartige Grundsatzentscheidungen des Senats noch gar nicht gegeben.

Die bisherigen Beschlüsse, die Neonazis das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gesichert haben, waren Eilbeschlüsse, denen Eilanträge der rechtsextremen Demoveranstalter zugrunde lagen. Diese Eilanträge werden "lediglich" von drei Richtern gefällt, von der 1. Kammer des 1. Senats des BVerG unter dem Vorsitz eben von Herrn Dr. Hoffmann-Riem. Diese Beschlüsse sind nicht allgemein rechtsverbindlich, sie haben Gültigkeit nur für den jeweils einen konkreten Eilantrag. Die von Dr. Hoffmann-Riem vertretene Rechtsauffassung der Richter der 1. Kammer des 1. Senats ist deshalb nicht generell rechtsbindend für Behörden und Gerichte. Kritik daran stellt keine Missachtung eines Verfassungsorgans dar.

Die Argumentation von Dr. Hoffmann-Riem und somit die Entscheidungslinie der 1. Kammer des 1. Senats ist somit kritisierbar, und ihr ist von Verfassungsrechtlern und Juristen bereits widersprochen worden. Im Juli des vergangenen Jahres wandte sich Dr. Michael Bertrams, Präsident des Verfassungsgerichtshofes und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen mit einer kritischen Stellungnahme zur Beschlusspraxis der 1. Kammer und deren Vorsitzenden an die Öffentlichkeit - als Antwort auf einen Presseartikel von Dr. Hoffmann-Riem in der Frankfurter Rundschau. Hintergrund dieser Kritik: das OVG NRW hatte in mehreren Fällen Verbote von Nazidemonstrationen bestätigt. Diese Beschlüsse wurden infolge von Eilanträgen an das BVerG von der dortigen 1. Kammer unter Dr. Hoffmann-Riem wieder aufgehoben.

Dr. Bertrams wirft seinem Karlsruher Kollegen vor, sich nicht "ernsthaft mit den in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Gegenargumenten" auseinandergesetzt zu haben und weist darauf hin, dass es sich bei den Anschauungen von Neonazis nicht "lediglich um politisch missliebige Meinungen handelt, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz eine entschiedene Absage erteilt hat."

Dr. Bertrams weiter: "Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit als Kernpunkte neonazistischer Ideologie sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar sind. Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der es rechtfertigt, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, inhaltlich zu begrenzen. Das historische Gedächtnis der Verfassung wird m.a.W. übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut als politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstuft."

Nach Auffassung des OVG NRW ist mit dem öffentlichen Auftreten von Neonazis eine Verletzung "grundlegender sozialer und ethischer Anschauungen einer Vielzahl von Menschen", insbesondere von Menschen ausländischer Abstammung oder jüdischen Glaubens verbunden. Dieses Argument wurde in letzter Zeit auch von der 1. Kammer des 1. Senats des BVerG für eine Verbotsbestätigung geltend gemacht, allerdings nur im Zusammenhang mit einem Feiertag oder einem Gedenktag. Für die Menschen - so das OVG - sei diese Verletzung aber an jedem Tag gegeben, unabhängig von Feier- und Gedenktagen, und müsse somit auch grundsätzlich als Verbotsgrund geltend gemacht werden können.

Dr. Bertrams kommt zu dem Schluss: "Für den demokratischen Willensbildungsprozess sind die vom Grundgesetz geächteten Anschauungen von Neonazis ohne Bedeutung. Speziell diesen Anschauungen hat das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Andersdenkenden ist ein hohes Gut. Diese Freiheit muss in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes aber dort ihre Grenze finden, wo der Versuch unternommen wird, das menschenverachtende Gedankengut des Dritten Reiches wiederzubeleben."