Fragen an Markus Kurth

Von der AG Arbeit + Soziales

aus: Basisdienst - Informationen aus dem Kreisverband Dortmund 1/2004, 15. Januar 2004

In Dortmund wie im Ruhrgebiet insgesamt haben wir mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen zu kämpfen. Die Menschen hier - insbesondere in den Arbeitermilieus - sind von der sozialen Kürzungspolitik besonders hart betroffen. Wie schätzt Du die konkreten Auswirkungen der Hartz-Gesetze auf die soziale Entwicklung im Ruhrgebiet ein?

Markus Kurth: Wie in den meisten Großstädten sind auch in den Ruhrgebietsstädten nicht "die" Menschen schlechthin von Leistungseinschränkungen betroffen, sondern besondere Bevölkerungsgruppen. In einer prekären Lage befinden sich vor allem diejenigen, die

  • schon seit längerem arbeitslos sind oder wegen Kinderpause länger nicht gearbeitet haben,
  • nicht über besondere Qualifikationen oder gar keine Ausbildung verfügen,
  • mangelhafte Sprachkenntnisse haben,
  • gesundheitliche Handicaps oder Behinderungen mitbringen,
  • älter als 50 Jahre sind,
  • wegen Kindern räumlich und zeitlich gebunden sind,
  • psychische oder soziale Schwierigkeiten haben (Sucht, Überschuldung usw.).

Diese Merkmalsaufzählung ist nicht vollständig, beschreibt aber die wichtigsten Punkte, die es wahrscheinlicher machen, keinen Arbeitsplatz und kein Erwerbseinkommen zu finden. Meistens vereinigen die besonders von Erwerbslosigkeit betroffenen Menschen mehr als ein Merkmal auf sich (sog. multiple Problemlagen). Dies macht integrierte Unterstützungsangebote erforderlich, die den Problemzusammenhang angehen, der hinter außerordentlich schlechten Erwerbschancen steht. Einerseits zielt die Einrichtung von Job-Centern genau darauf, ein integriertes Unterstützungsangebot mitsamt Beratung durch ein individuelles Fallmanagement aufzubauen. Das halte ich für längst überfällig. Andererseits bedeuten gleichzeitige Kürzungen von Bundes-, Landes- und Kommunalebene in verschiedenen sozialen Bereichen (von der Suchthilfe bis zur aktiven Arbeitsmarktpolitik), dass sich die Bedingungen für breitenwirksame Unterstützung gegenwärtig eher verschlechtern. Die passiven Leistungen wie die Höhe des Arbeitslosengelds II spielen da nur eine - vielleicht noch nicht einmal die wichtigste - Rolle.

Ob eine Stadt Konzerthäuser statt Kindertagesstätten finanziert oder das Bundesland NRW die Kohleförderung statt der Landesarbeitsmarktpolitik aufrecht erhält, ist nicht minder entscheidend, wenn es um die Bewertung der sozialen Entwicklung im Ruhrgebiet geht.

Betroffen sind übrigens weniger die Menschen in den Arbeitermilieus - jedenfalls nicht diejenigen, die (noch) in den klassischen korporatistischen Arrangements verankert sind (z.B. Bergbaubeschäftigte). Es droht sich vielmehr eine neue Klasse der "Pauper", ein neues Subproletariat zu entwickeln, das dauerhaft und über Generationen von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen ist. Bereits jetzt finden wir in den sogenannten Problemstadtteilen eine Bevölkerung, die sich vorwiegend zusammensetzt aus MigrantInnen und abgehängten Angehörigen der alten Arbeitermilieus (In den USA existiert für diese die unschöne, aber in ihrer Härte treffende Bezeichnung "white trash"). Die Hartz-Gesetze werden den Trend zur stärkeren Segmentierung und Spaltung der Gesellschaft verstärken und beschleunigen, wenn nicht die Komponente des "Förderns" massiv ausgebaut und institutionell (u.a. Rechtspositionen der Erwerbslosen wie "Zumutbarkeit") sowie finanziell unterstützt wird. Das sieht im Moment leider nicht danach aus. Allerdings können die Hartz-Gesetze allein nicht als Ursache gesellschaftlicher Spaltung gesehen werden. Sie sind vielmehr der in dieser Form weitgehend untaugliche Versuch, der Folgen der zunehmenden Erosion der herkömmlichen "Normalarbeitsgesellschaft" Herr zu werden.

Wie schätzt Du die aktuellen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss ein: haben die GRÜNEN überhaupt eine Chance, ihre Interessen durchzusetzen? Ist Krista Sager mit dem Dresdner Beschluss "Reformen und Gerechtigkeit" wirklich ein klarer Kurs gegeben worden, den sie einhalten kann und wird?

Markus Kurth: Die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss sind ja jetzt vorbei. Abgewehrt wurden zentrale Angriffe der Union auf die Tarifautonomie und ihr Versuch, die Job-Center allein der kommunalen Verantwortung zu übergeben. Eins darf man nicht vergessen: Krista Sager war im VA allein. Sie wusste, dass die Frage der Zumutbarkeit einer der zentralen Punkte für uns Grüne darstellt. Das wusste aber auch die CDU. Und Parteitagsbeschlüsse können in Allparteien-Konstellationen noch schlechter durchgesetzt werden als ohnehin schon in Verhandlungen mit der SPD. Allerdings sollte man als im doppelten Wortsinn parteilicher Abgeordneter auch "Nein" sagen können bzw. dürfen, wenn die Große Koalition Beschlüsse vorlegt, die auch mit viel Wohlwollen nicht mehr mit Parteitagsbeschlüssen und lange verfochtenen Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Ich habe dies bei der Abstimmung über Hartz IV getan.

Mit welcher politischen Absicht hast Du Dich im Bereich der Sozialpolitik angesiedelt? Wie sind Deine konkreten zukünftigen Vorstellungen: Richtung einer politischen Ökonomie im Sozialstaat (Stichwort: soziale Nachhaltigkeit) oder verbrämter Neoliberalismus unter dem Mantel des Subsidiaritätsprinzips?

Markus Kurth: Die zweite Frage kann wohl nicht ernst gemeint sein: Ich sehe mich nicht als Vertreter eines "verbrämten Neoliberalismus". Natürlich sagen einige, dass jede Form der Kooperation im gegenwärtigen Prozess der Veränderung des Sozialstaats schädlich sei. Ich versuche jedoch weiterhin, die angesprochenen Tendenzen zur gesellschaftlichen Spaltung so gut wie mir möglich aufzuhalten, mit der Partei und meinen Kollegen zu diskutieren, diese zu überzeugen und große sowie kleine Beschlüsse zu beeinflussen. Das bedeutet für mich jedoch keine Politik des "anything goes" um jeden Preis! Zum Stichwort "soziale Nachhaltigkeit" gibt es so viel zu sagen, dass ich dafür einen gesonderten Artikel in einem der nächsten Basisdienste schreiben werde müssen.

Begründe bitte, wie das Hartz-Konzept die Zahl der Arbeitslosen reduziert (Erfahrungen aus den bisherigen Programmen "Kapital für Arbeit"/"Mainzer Modell")! Wie sehen die Konditionen wirklich aus: handelt es sich nicht vielmehr um eine flächendeckende Umwandlung von (voll sozialversicherungspflichtigen) Vollwertarbeitsplätzen zu (minimal sozialversicherungspflichtigen) Minijobs, die jeglicher Existenzsicherung entbehren? Was passiert einem ehemals Vollzeitbeschäftigten, der nun einen solchen Minijob angenommen hat, und der/die erneut arbeitslos wird und auf ALG angewiesen ist?

Markus Kurth: Das Hartz-Konzept zielt weniger auf die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen (auch wenn Peter Hartz selbst davon gesprochen hat), als vielmehr auf die Verbesserung und Beschleunigung der Vermittlung. "Kapital für Arbeit" ist da nur ein Modul - und zwar das schlechteste, wenn man sich die bisherigen Ergebnisse betrachtet. Die Minijob-Regelung hat bisher nicht zu einem Aufspalten von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in 400-Euro-Jobs geführt; zumindest nicht in einem statistisch relevanten Ausmaß. Allerdings besetzen auch kaum Arbeitslose die Minijobs (schließlich kann man davon auch nicht leben), sondern überwiegend bereits Beschäftigte, die einen Zuverdienst suchen. Was gelungen zu sein scheint, ist immerhin, eine Vielzahl von bisherigen Schwarzarbeitsverhältnissen wieder zu legalisieren.

Anders ist der rasante Anstieg der Minijobs seit April 2003 nicht zu erklären. Wären in gleichem Umfang reguläre Stellen abgebaut worden, hätte die Arbeitslosigkeit seit Sommer 2003 steil ansteigen müssen.

Was mit den Ich-AGs passiert, muss man abwarten. Ich befürchte allerdings, dass eine Menge von ihnen nach Auslaufen der Förderung wieder Pleite gehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hingegen, die die Grünen übrigens schon lange vor Hartz gefordert hatten, hat das Potential, sich zum Aufbau einer Grundsicherung zu entwickeln, wenn man sie nicht hauptsächlich unter Einspargesichtspunkten betreibt. Die politische Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des neuen ALG II muss deshalb weiter geführt werden. Hier sehe ich auch viele Ansatzpunkte für Kommunalpolitik, weil viele Spielräume bei der konkreten Ausgestaltung der Arbeitsgemeinschaften zwischen Kommunen und Arbeitsämtern bestehen.

Zum konkreten Fall eines ehemals Vollzeitbeschäftigten, der einen Minijob angenommen hat. Als ALG I-BezieherIn muss man keinen Minijob annehmen. Hier gelten andere Zumutbarkeitskriterien. Wenn man bereits vor der Arbeitslosigkeit einen Minijob hatte, kann man sogar "Teilzeitarbeitslosengeld" beanspruchen, d.h. der Minijob wird kaum auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Für ALG II-Empfänger ist ein Minijob zumutbar. Das wäre auch o.k., wenn der Stundenlohn stimmt. Zusätzlich zu dem Minijob bekommt man ergänzendes ALG II zu leicht verbesserten Anrechnungsbedingungen, aber natürlich ist man weiter im ALG II-Leistungsbezug. Wird man dann erneut arbeitslos bzw. verliert den Minijob, ändert sich im Prinzip nichts, da man dann wieder 100% ALG II bezieht.

Gibt es eine Linie Deinerseits, wie in Zukunft mit versicherungsfremden Leistungen (Wiedervereinigung, Mutterschaftsgeld ) aus dem Sozialtopf umgegangen werden soll (vgl. Antrag KV Köln zur BDK Cottbus)?

Markus Kurth: Ganz einfach: Finanzierung durch Steuergelder, die in einem gerechten Steuersystem (Vermögenssteuer) erhoben werden.