Zur Diskussion um die Einladung von Joachim Gauck zur Gedenkveranstaltung in der Bittermark

Dokumentation einer Presseerklärung von Dortmunder Bürgerinnen und Bürgern, 22. Februar 2005

Presseerklärung von Dortmunder Bürgerinnen und Bürgern, u. a. aus dem Kreis der Initiatoren der Wehrmachtsausstellung in Dortmund 2003

Seit einigen Tagen werden wir Zeugen einer Auseinandersetzung, die brieflich zwischen mehreren der Beteiligten, über das Internet sowie über Artikel und Leserbriefe in Dortmunder Zeitungen ausgetragen wird. Auslöser ist die von der Stadt Dortmund ausgesprochene Einladung an den ehemaligen Leiter der "Stasi-Unterlagen-Behörde" und derzeitigen Vorsitzenden des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie", Joachim Gauck, als Hauptredner auf der Karfreitags-Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am 25. März 2005 am Mahnmal in Dortmund-Bittermark zu sprechen.

In Briefen an den Dortmunder Oberbürgermeister Dr. Gerhard Langemeyer, in Stellungnahmen für die Presse sowie in Leserbriefen (siehe "Westfälische Rundschau (WR)" vom 15. bzw. 17. Februar 2005) fordert u. a. die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN)", die Einladung an Gauck zurückzuziehen. In diesen Stellungnahmen wird Gauck als "Geschichtsrevisionist" bezeichnet, dessen "Schaffen" davon gekennzeichnet sei, "die Nazis zu verharmlosen". Ihm wird weiterhin vorgeworfen, von dem umstrittenen ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann "lobend zitiert" worden zu sein. Zudem wird behauptet, Gauck habe die Sowjetunion "mit dem Begriff 'Roter Holocaust' belegt" (Leserbrief Willi Hoffmeister, Dortmund), er sei "zweifellos beteiligt an der fortschreitenden Verharmlosung der Geschichte des Nazisystems und der schleichenden Revision der Einmaligkeit des Holocaust", (Leserbrief Prof. Wolfgang Richter, Dortmund), er sei "ein erklärter Antikommunist" und "Verfechter einer Totalitarismus-Theorie, die den mörderischen Nazi-Terror mit DDR-Unrecht gleichsetzt" (Leserbrief Pfarrer Hanno May, Dortmund, sämtlich in der WR vom 17. Februar 2005).

Als Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, die sich selbst auf unterschiedliche Weise intensiv mit der NS-Vergangenheit und ihren bis heute reichenden Folgen beschäftigt haben, sowie als Demokraten können wir diese Behauptungen, die inzwischen den Charakter einer mit groben Unwahrheiten gespickten Kampagne angenommen haben, nicht unwidersprochen hinnehmen.

Entschieden wenden wir uns gegen die Diffamierung eines Mannes, der als Bürgerrechtler in der DDR und als langjähriger Bundesbeauftragter und Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde wesentlich dazu beigetragen hat, das in den 40 Jahren der SED-Diktatur begangene Unrecht aufzuarbeiten und zahllosen Opfern der DDR-Herrschaft nachträglich zu ihrem Recht zu verhelfen.

Wir verwahren uns gegen die maßlosen Unterstellungen, Joachim Gauck verharmlose die Nazis, benutze die Formulierung "Roter Holocaust" und sei daran beteiligt, die Einmaligkeit des Völkermordes an den Juden zu leugnen. Keine dieser Behauptungen ist mit Zitaten aus Gaucks Reden oder schriftlichen Äußerungen belegt.

Hintergrund der Vorwürfe ist offensichtlich ein Beitrag Gaucks in dem sog. "Schwarzbuch Kommunismus". Ohne dass wir uns mit diesem Buch identifizieren: Gaucks Äußerungen dort zeigen, dass die Vorwürfe aus der Luft gegriffen und polemisch sind. Gauck verwendet dort weder, wie behauptet, den Begriff "Roter Holocaust", noch redet er einer platten Gleichsetzung von NS-Verbrechen und Kommunismus das Wort. In sehr differenzierter Weise spricht er vielmehr von den "Unterschiedlichkeiten der Ideologien" und "größeren Differenzen statt Übereinstimmungen". Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in der DDR geht es ihm um einen Vergleich der "Herrschaftstechniken" wie z. B. der "dienstbaren Rolle des Rechts" und der "Gewalt nicht legitimierter Macht". In diesem differenzierten Sinne kommt er zu dem Schluss, es handele sich bei Nationalsozialismus und Kommunismus um totalitäre Herrschaftsformen.

Wir sind nicht bereit, die jegliche kritische Debatte schon im Ansatz erstickenden Argumente "Antikommunismus" und "Verfechter einer Totalitarismus-Theorie" hinzunehmen. Es ist unserer Ansicht nach sehr wohl angemessen, die Erscheinungsbilder, Gesellschaftstheorien und Herrschaftstechniken unterschiedlicher totalitärer Regime zu vergleichen; politisches und wissenschaftliches Denken würden sich selbst ad absurdum führen, wenn es das nicht täte. "Vergleichen" bedeutet ja nicht "gleichsetzen". Dies tut Gauck, wie dargestellt, auch nicht. "Vergleichen" bedeutet auch für uns nicht, die historische Einmaligkeit des von Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Völkermords in Frage zu stellen. Auch dies tut Joachim Gauck nicht.

Die in den letzten Tagen veröffentlichte einseitige Kritik ist demzufolge eher durch die klare kritische Haltung Gaucks zum Kommunismus und zur DDR verursacht. Es drängt sich uns der Eindruck auf, dass hier Rufschädigung betrieben werden soll mit dem Ziel, (womöglich auch beim Bittermark-Gedenken am Karfreitag) eine die stalinistischen Verbrechen verharmlosende Geschichtssicht zu propagieren; dies wäre in der Tat Revisionismus und Geschichtsklitterung. Dies ist umso unverständlicher, als Joachim Gauck sogar ausdrücklich erklärt hat, dass wir "einen Raum der Achtung offenhalten (sollen) für jene, deren kommunistischen Idealen wir zwar Skepsis oder Kritik entgegenbringen, deren Haltung als Kämpfer gegen Willkür und Unterdrückung uns aber Achtung und Sympathie abringt."

Wir sehen insofern keinen Grund, Herrn Gauck nicht in der Bittermark sprechen zu lassen.

Darum fordern wir, die Unterzeichneten, die Debatte um den Auftritt von Joachim Gauck beim Karfreitagsgedenken in der Bittermark zu versachlichen. Wir würden uns wünschen, dass die demokratischen Parteien und ihre Fraktionen im Rat der Stadt Dortmund und andere engagierte Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt zu diesen Vorgängen deutlich Stellung bezögen und die Diskussion nicht nur denjenigen überließen, die nun wahrlich keine Deutungshoheit für ihr spezielles Geschichtsbild beanspruchen können.

Die von interessierter Seite initiierte polemische Auseinandersetzung droht das zu beschädigen, was gemeinsames Ziel aller Demokraten sein muss: Erinnern und nicht vergessen - ohne Geschichtsklitterung und Einäugigkeit, konsequenter Einsatz gegen Gewalt und Diktatur - aktiver Kampf gegen den Rechtsextremismus und für Demokratie und Menschenrechte.

Dortmund 22.02.2005

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Marianne Brentzel, Buchautorin ("Nesthäkchen kommt ins KZ" u.a.)
Wolfgang Buchholz, ev. Pfarrer, ACK (Arbeitsgemeinschaft christl. Kirchen)
Klaus Commer, Journalist, ehem. Sprecher der Wehrmachtsausstellung in Dortmund 2003
Matthias Dudde, Kreisvorstand BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wolfgang Ebert, Referat Jugend und Ökumene, Ev. Kirche
Hans Glasner, Stefan Mühlhofer, Verein gegen Vergessen
Friedrich Stiller, ehem. Sprecher der Wehrmachtsausstellung in Dortmund 2003, Pfarrer für Gesellschaftliche Verantwortung, Ev. Kirche
Eberhard Weber
Günther Wegmann, SPD UB
Rainer Zunder, Journalist