Nazikundgebungen: Kreide fressen für das Recht auf Versammlungsfreiheit

Auflagen statt Verbote - Zur derzeitigen Praxis der Versammlungsbehörden

Von Heinz Schröder

aus: Basisdienst - Informationen aus dem Kreisverband Dortmund 1/2004, 15. Januar 2004

Grundgesetz und Verfassung unseres Landes haben als Folgerung aus der deutschen Geschichte eine immanente Intention: Einen neuen Nationalsozialismus auf deutschem Boden nie wieder aufkeimen zu lassen. Dr. Michael Bertrams, Präsident des Verfassungsgerichtshofes und des Oberverwaltungsgerichts für das Land NRW, schlussfolgert, dass das Grundgesetz den nationalsozialistischen Anschauungen eine entschiedene Absage erteilt hat. Im Artikel 18 des Grundgesetzes heißt es: "Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere (...) die Versammlungsfreiheit (Artikel 8) (...) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte." Entsprechend sieht Dr. Bertrams rechtliche Möglichkeiten, Nazi-Demonstrationen zu verbieten. *

Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, vorsitzender Richter der 1. Kammer des 1. Senats am Bundesverfassungsgericht, vertritt dagegen die Rechtsauffassung, dass neo-nationalsozialistisches Gedankengut lediglich eine "missliebige Meinung" einer politischen Minderheit sei, die vom Grundsatz der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit geschützt sei. Angemeldete Versammlungen dürfen - so Dr. Hoffmann-Riem - nur ausnahmsweise verboten werden, wenn "Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht reichen". **

Dies hat zur Konsequenz, dass in letzter Instanz vom BVG Verbote von Nazi-Demonstrationen regelmäßig auf-gehoben werden. Die Polizeibehörden sind aufgrund einer von Dr. Hoffmann-Riem initiierten "verfassungsgerichtlichen Intervention" angehalten, Nazi-Demonstrationen nach dem Versammlungsrecht zu behandeln und zu erwartende Rechtsverletzungen durch Auflagen zu verhindern. ***

Die gängige Praxis ist nunmehr diese: Rechtsextremistischen Versammlungsleitern werden nach erfolgter Anmeldung durch die Versammlungsbehörden Auflagen auferlegt bezüglich der Art und Weise des Auftretens, der Kleidung, der erlaubten Zeichen und Symbole und der Redeinhalte. Versuche von Neonazis, gegen diese Auflagen rechtlich vorzugehen, sind im wesentlichen gescheitert. Mitunter werden die Teilnehmer an Nazi-Demos vorab einzeln nach Waffen durchsucht, selten wird überprüft, ob die angemeldeten Ordner die rechtlichen Voraussetzungen erfüllen.

Und so treten auch stadtbekannte gewaltbejahende Nazis temporär auf, als hätten sie auf wundersame Weise Kreide gefressen: es wird unmilitärisch einherspaziert, die Kleidung ist zivil und leger, auf verbotene Zeichen und Symbole wird verzichtet, die Reden sind juristisch abgesichert, verbotene Inhalte werden angedeutet, verklausuliert, umschrieben. Für die braunen Insider verständlich, für die eventuell zuhörenden Vertreter von Ermittlungsbehörden strafrechtlich unbedenklich.

Die Dortmunder Polizeibehörde versuchte im Vorfeld der Nazi-Demonstration am 3.3.2001 die Öffentlichkeit mit der Äußerung zu beruhigen, man werde den Nazis den Aufenthalt in Dortmund so unangenehm wie möglich machen und sie mit entsprechenden Auflagen belegen. Von den Neonazis wird dies natürlich als ungerechtfertigte Schikane angesehen, aber es wird in Kauf genommen, denn auf der anderen Seite gelingt es ihren Versammlungsleitern nun, immer mehr Forderungen durchsetzen zu können, unter Berufung auf die Garan-tien des Versammlungsrechts.

So werden Nazi-Aufmärsche nicht mehr in städtische Randgebiete ausgelagert, sie finden zusehends dort statt, wo die Anmelder dies wünschen. Die Polizeibehörden genehmigen Nazidemonstrationen auch in Wohnvierteln, wo potentielle Opfer von Nazigewalt wohnen, in Dortmund z.B. in der Nordstadt oder am 20.9.2003 im Westviertel. Mehr noch: Im letzten Jahr wurden Nazikundgebungen regelmäßig auch in Innenstadtbereichen genehmigt, oft in unmittelbarer Nähe von gefährdeten Bevölkerungsgruppen und nazikritischen Veranstaltungen. In Dortmund durften Nazis nur wenige 100 Meter vom Eingang der "Auslandsgesellschaft" aufmarschieren, wo eine Informationsveranstaltung zu Nazi-Rock stattfand. In Hagen durften Nazis gegen eine Veranstaltung mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, aufmarschieren, auch nur wenige 100 Meter von dem Ort entfernt, wo Herr Spiegel auftrat.

In den Dortmunder Vororten Brechten und Scharnhorst wurden Nazikundgebungen im unmittelbaren Ortszentrum genehmigt, in der Dortmunder Innenstadt ist bislang der Wall noch die Grenze. Citynahe Kundgebungsorte der Nazis sind hier derzeit der Hauptbahnhof und der Platz von Buffalo, beide unmittelbar am Wall gelegen.

Die großen Kaufhäuser, die Citykaufleute und die City-Gastronomie konnten bislang erwirken, dass Nazidemos innerhalb des Walls, in den Fußgänger- und Einkaufszonen, nicht genehmigt wurden. Der Versuch der Dortmunder "Freien Kameradschaft", einen Open-Air-Auftritt der Nazi-Band "Oidoxie" am Ostersonntag 2002 in der City durchzusetzen, scheiterte. Hingegen wurde ein Auftritt von "Oidoxie" am 20.9.2003 im Westviertel genehmigt, abseits von Kaufhäusern und Gastronomie-Betrieben.

Das Befolgen der polizeilichen Auflagen ist für viele Neonazis auch aus einem anderen Grund kein grundsätzlicher Anlass zur Ärgernis mehr. Inzwischen haben Vordenker der Neonazis die Vorzüge eines "zivilen" Auftretens längst erkannt. Mit populistischen Kampagnen wie "Todesstrafe für Kinderschände" wurde Anfang vergangenen Jahres in Scharnhorst versucht, im rechten Sektor Sympathisanten zu gewinnen. Darüber hinaus versuchen Neonazis seit einiger Zeit gezielt in Jugendszenen einzudringen. Rechtsradikale Musik und Internetangebote sind wirksame Köder geworden, Kleidungs- und Outfitmerkmale wichtige Identifikationselemente. Nazi-Skins in Bomberjacken und Springerstiefeln und mit Hakenkreuz-Tattoos sind wenig geeignet, in fremden Jugendszenen an Einfluss zu gewinnen, dies gelingt eher den trendigen Kurzhaarigen in Lonsdale-Jacken.

Nur allzu oft haben Polizisten geäußert, sie hätten mit Neonazis keine Probleme. Nazidemos verlaufen im wesentlichen diszipliniert, sind straff organisiert, die polizeilichen Auflagen werden in der Regel befolgt. Wo dies nicht geschieht, werden - wenn sie Pech haben - Einzelpersonen kurzfristig in Gewahrsam genommen, wenn sie Glück haben - wie letztjährig in Bochum, wo verbotene Abzeichen von der Polizei lediglich mit Klebeband überklebt wurden - bekommen sie praktische Nachhilfe in puncto Auflagenerfüllung.

Zu den Garantien des Versammlungsrechts gehört, dass die Polizei verpflichtet ist, Versammlungen vor Störungen zu schützen. Die Polizeipräsidentin einer Nachbarstadt Dortmunds hatte sich im vergangenen Jahr sogar dahingehend geäußert, dass im Grunde genommen jede störende Einwirkung auf eine Nazikundgebung bereits einen Verstoß gegen das Versammlungsrecht darstelle, auch Schreien und das Benutzen von Trillerpfeifen.

Hier zeigt sich die ganze verhängsnisvolle Schizophrenie, Nazidemos ausschließlich nach versammlungs-rechtlichen Grundsätzen zu behandeln, und die historische Intention der deutschen Verfassung außen vor zu lassen: Ein Grundrecht, aus dem Willen heraus geschaffen, einen Nationalsozialismus auf deutschem Boden nicht noch einmal zuzulassen, soll auf einmal Menschen, die Naziredner auch nur auspfeifen, zu Straftätern machen?

Dann wäre ja nur noch dies erlaubt, wenn Nazis aufmarschieren: Wegschauen, Akzeptieren oder Applaudieren!

Ist dies der Wille der "Väter des Grundgesetzes"?